Donnerstag, 1. Dezember 2011

Philanthropie Version 2.0

Das Internet mit allen seinen Websites, Blogs und Sozialen Netzwerken. National und international gedruckte Fachpresse. Radio- und Hörfunk. Kritische Fach- und Sachliteratur in öffentlichen Universitätsbibliotheken und Stadtbüchereien sowie im privaten Einzelhandel. Fernsehsender und Spartenprogramme in schier epischer Breite.
Die nicht hoch genug zu haltende Möglichkeit des schrankenlosen sapere aude ist in weiten Teilen der Welt – zumindest im größten Teil der westlichen Wertegemeinschaft – fraglos gegeben. Die daraus folgende implizite Handlungsaufforderung für den Bürger, die sichtbaren Folgen des allgemein möglichen und für das Subjekt stetig vollzogenen Wissenszuwachses, bleibt der aufgeklärte Citoyen jedoch in aktiver Partizipation und Agitation zumeist schuldig.

Die Forderung nach unbegrenztem Wissen reicht nämlich nicht aus. Sie hat innerhalb der Debatte die wesentlich wichtigere Maxime, nämlich die des verantwortlichen Handelns aus dem Blickfeld verdrängt. Wir sind bequem geworden. Wir wissen so viel und handeln trotzdem nicht so, wie wir es eigentlich besser wüssten. Wozu der Wunsch nach noch mehr Informationen, Transparenz und Mitspracherecht, wenn wir daraus doch keine direkten Folgen ziehen, außer mit den Zeigefinger auf andere zu deuten, „Dampf“ abzulassen und uns vom Feuilleton zu Recht als vom Alltag gelangweilte und gediegene Wutbürger definieren zu lassen. Jeder von uns weiß, dass Fleisch essen eigentlich unmoralisch ist und letztendlich die Massentierhaltung unterstützt. Jeder halbwegs belesene Mensch kann sich denken, dass Kohlestrom die Umwelt mehr schädigt als Solarstrom, Wasserkraft oder andere regenerative Energien. Jeder von uns fühlt, dass Kinderarbeit schlecht ist, weil diese Kinder zumeist unter schlimmsten Bedingungen ausgenutzt werden.

Wir wissen das alles.

Trotzdem handeln die wenigsten im Alltag entsprechend und ergötzen sich stattdessen an jahreszeittypischen Demonstrationen der Barmherzigkeit zu irgendwem. Im Herbst zugunsten der sauberen und atomfreien Zukunft beim Castor im Wendland, Weihnachten mit dem Spendenmarathon zugunsten armer Kinder in Afrika, Silvester mit Brot für die Welt. Das mediale Gedächtnis ist kurz, unser eigenes Gewissen verschwindend gering. Wir leben gut mit der Doppelmoral. Essen günstiges Fleisch vom Discounter, tragen T-Shirts und Turnschuhe aus Kambodscha, huldigen überteuerten und verdächtigen Obstphones made in china, lassen den Computer 24/7 am Netz und fahren mit dem Auto zum Supermarkt nebenan, der garantiert kein Mitbestimmungsrecht seiner Mitarbeiter anbietet, dafür aber billige Lebensmittel.

Wir entschuldigen unser Zögern mit den nur scheinbar noch schlimmeren tatsächlichen Verfehlungen der anderen. Diese Maxime scheitert täglich. Im Großen, wie bei der Finanztransaktionssteuer oder globalen Klimaverpflichtungen, wie im Kleinen bei der Arbeit im Ehrenamt in der Nachbarschaft. Die digitale Lichterkette bescheinigt uns ein soziales Empathievermögen. Bequem aus dem IKEA-Stuhl  kommentieren, kritisieren und teilen wir den Ist-Zustand in Chaträumen und sozialen Plattformen von zuhause aus, doch ziehen daraus in unserem direkten Umfeld keinerlei Rückschlüsse auf Verhaltensänderungen.

Im Jahr 2009 spülten auf Bundesebene fast 50 Prozent der Stimmen eine bürgerliche Koalition mit einer Ein-Themen-Partei an die Macht dessen Wähler sich anschließend lautstark beschwerten, das diese dann ihr einziges Anliegen – Steuersenkungen – auch tatsächlich durchbringen wollte.

Wir hätten ja anders gehandelt, hätten wir das nur schon vorher gewusst.

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