Die nicht hoch genug zu
haltende Möglichkeit des schrankenlosen sapere
aude ist in weiten Teilen der Welt – zumindest im größten Teil der
westlichen Wertegemeinschaft – fraglos gegeben. Die daraus folgende implizite
Handlungsaufforderung für den Bürger, die sichtbaren Folgen des allgemein
möglichen und für das Subjekt stetig vollzogenen Wissenszuwachses, bleibt der
aufgeklärte Citoyen jedoch in aktiver Partizipation und Agitation zumeist schuldig.
Die Forderung nach unbegrenztem
Wissen reicht nämlich nicht aus. Sie hat innerhalb der Debatte die wesentlich
wichtigere Maxime, nämlich die des verantwortlichen Handelns aus dem Blickfeld verdrängt.
Wir sind bequem geworden. Wir wissen so viel und handeln trotzdem nicht so, wie
wir es eigentlich besser wüssten. Wozu der Wunsch nach noch mehr Informationen,
Transparenz und Mitspracherecht, wenn wir daraus doch keine direkten Folgen
ziehen, außer mit den Zeigefinger auf andere zu deuten, „Dampf“ abzulassen und
uns vom Feuilleton zu Recht als vom Alltag gelangweilte und gediegene Wutbürger
definieren zu lassen. Jeder von uns weiß, dass
Fleisch essen eigentlich unmoralisch ist und letztendlich die Massentierhaltung
unterstützt. Jeder halbwegs belesene Mensch kann sich denken, dass Kohlestrom
die Umwelt mehr schädigt als Solarstrom, Wasserkraft oder andere regenerative
Energien. Jeder von uns fühlt, dass
Kinderarbeit schlecht ist, weil diese Kinder zumeist unter schlimmsten
Bedingungen ausgenutzt werden.
Wir wissen das alles.
Trotzdem handeln die wenigsten
im Alltag entsprechend und ergötzen sich stattdessen an jahreszeittypischen Demonstrationen
der Barmherzigkeit zu irgendwem. Im Herbst zugunsten der sauberen und
atomfreien Zukunft beim Castor im Wendland, Weihnachten mit dem Spendenmarathon
zugunsten armer Kinder in Afrika, Silvester mit Brot für die Welt. Das mediale
Gedächtnis ist kurz, unser eigenes Gewissen verschwindend gering. Wir leben gut
mit der Doppelmoral. Essen günstiges Fleisch vom Discounter, tragen T-Shirts
und Turnschuhe aus Kambodscha, huldigen überteuerten und
verdächtigen Obstphones made in china,
lassen den Computer 24/7 am Netz und fahren mit dem Auto zum
Supermarkt nebenan, der garantiert kein Mitbestimmungsrecht seiner Mitarbeiter
anbietet, dafür aber billige Lebensmittel.
Wir entschuldigen unser Zögern
mit den nur scheinbar noch schlimmeren tatsächlichen Verfehlungen der anderen. Diese
Maxime scheitert täglich. Im Großen, wie bei der Finanztransaktionssteuer oder
globalen Klimaverpflichtungen, wie im Kleinen bei der Arbeit im Ehrenamt in der
Nachbarschaft. Die digitale Lichterkette bescheinigt uns ein soziales Empathievermögen.
Bequem aus dem IKEA-Stuhl kommentieren, kritisieren
und teilen wir den Ist-Zustand in Chaträumen und sozialen Plattformen von zuhause aus, doch ziehen daraus in unserem direkten Umfeld keinerlei
Rückschlüsse auf Verhaltensänderungen.
Im Jahr 2009 spülten auf
Bundesebene fast 50 Prozent der Stimmen eine bürgerliche Koalition mit einer Ein-Themen-Partei
an die Macht dessen Wähler sich anschließend lautstark beschwerten, das diese
dann ihr einziges Anliegen – Steuersenkungen – auch tatsächlich durchbringen wollte.
Wir hätten ja anders gehandelt,
hätten wir das nur schon vorher gewusst.
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